Der Engel an der Krippe


Vor wenigen Minuten hatte der Gottvater seine Engelschar zusammengerufen, um ihnen etwas Wichtiges mitzuteilen. Alle waren pünktlich erschienen und standen bereit, die Botschaft entgegenzunehmen. „Heute wird in Bethlehem mein Sohn, als Sohn von Maria und Josef, das Licht der Welt erblicken. Dieses Ereignis soll dementsprechend würdig auf Erden verkündet werden. Darum werde ich einige von euch zur Erde senden. Ich möchte, dass die Hirten auf den Feldern von Bethlehem zuerst die Botschaft erhalten, und zwar so, dass sie von ihnen als großes Ereignis verstanden wird. Darum wirst du, Gabriel, dir die besten Sänger unter den Engeln auswählen und mit ihnen gemeinsam die Botschaft, mit großem Gloria, den Hirten überbringen." „Herr, wäre es nicht angebracht, dass dein Sohn in einem Königspalast zur Welt käme?“, versuchte Gabriel zu widersprechen. „Ich verstehe dich Gabriel, aber wenn diese Botschaft etwas bewirken soll, dann gibt es nur diesen Weg. Ihr wisst also Bescheid! Ein paar von euch werden sich auf den Dachfirst des Stalles setzen und das Kommen und Gehen dort beobachten, um notfalls die kleine Familie beschützen zu können. Damit auch alle diesen Stall finden, habe ich für diese Nacht einen ganz besonderen Stern entworfen, der über dem Stalle stehen wird. Ihr könnt also euer Ziel nicht verfehlen, er wird euch den Weg zeigen.“ Sofort gingen allen, dem ihnen erteilten Aufgaben nach. Uriel stellte eine kleine Gruppe zusammen, die sich unverzüglich zum Stall auf den Weg machen sollte. Gabriel rief die besten Sänger für seinen Chor zusammen und probte noch einmal das Gloria. Alle anderen Engel verließen etwas missgestimmt den Himmelssaal. Sie konnten und wollten nicht recht akzeptieren, dass sie nicht dabei sein sollten, bei diesem einmaligen Ereignis.

‚An den Chor für die Hirten hat Gott gedacht, an eine kleine Schar, die den Stall im Auge behält auch, aber was ist mit dem Kind?‘, überlegte, Beron, ein kleiner Engel, der bisher stets zurückstehen musste, da die anderen ihn noch nicht für ebenbürtig ansahen. ‚Wenn ich mich der Gruppe anschließe, die der Herr für den Stall abgesandt hat, wird es keiner merken. Ich fliege mit!“, nahm sich der kleine Engel vor. Gesagt, getan, er putzte noch einmal seine Flügel blank, sah sein Gewand durch, ob auch alles rein und sauber war und hielt sich dann in einem gewissen Abstand von den anderen Engeln, die gleich losfliegen würde bereit, um auf dem Dach des Stalles zu landen. So kam es, dass Beron schon wenig später mit den anderen auf dem Dachfirst des Stalles landete. Behutsam ließ er sich vom Dach gleiten und begab sich in den Stall. ‚Das soll Gottes Sohn sein?‘, überlegte er etwas entsetzt, beim Anblick dieses winzigen Kindes, in der Krippe, neben Ochs und Esel.  ‚Ob der Herr überhaupt ahnt, wie gefährlich es hier unten ist?‘, überlegte er weiter. Irgendwie wirkten der Ochse und der Esel wegen ihrer Größe etwas bedrohlich auf Beron. Er ging zur Krippe und setzte sich auf den Rand derselben. In dem Moment lächelte das Jesuskind. ‚Anscheinend freut es sich, dass es einen von den himmlischen Heerscharen vor sich sieht‘, dachte der kleine Engel. Hier hatte er doch eine ganz besondere Aufgabe, meinte er.

Inzwischen war der Chor der Engel auf dem Felde, nahe von Bethlehem, angekommen. Gabriel schob eine schwere Wolke beiseite, damit die Hirten sie auch sehen konnten, dann gab er das Zeichen zum Einsatz und das Gloria ertönte, wie ein Erdbeben erscholl es über die Felder und ließ die Hirten erzittern. Als Gabriel sah, was sie angerichtet hatten, rief er den Hirten schnell zu: „Fürchtet euch nicht! Siehe wir verkündigen euch eine große Freude, denn euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Gottes Sohn und nun geht und besucht das Kind und bringt ihm Ehre!“ Mit offenen Mündern standen die wettergegerbten Hirten und sahen gen Himmel. Als sie sich von ihrem Schreck ein wenig erholt hatten, wollten sie sich auf den Weg machen. Doch plötzlich merkte Gabriel, dass er noch etwas vergessen hatte und fügte hinzu: „Ihr müsst dem großen Stern folgen. Dort wo ihr den Stern über dem Stall seht, da seid ihr richtig!“ Die Hirten sahen noch einmal gen Himmel und machten sich auf den Weg. Bei solch einem Auftrag konnte man nicht zögern, schließlich wollten sie die ersten sein, die am Stall ankamen und sollte wahr sein, was die Engel verkündet hatten, konnte sie die Botschaft weitergeben.

Beron erwartete währenddessen die Hirten, bei denen Gabriel längst die Botschaft verkündet haben musste. Knarrend öffnete sich die schwere Stalltür und brachte einen winterlichen Hauch Kälte mit in den Stall. Staunend standen die Hirten vor den Eltern und dem Neugeborenen. „Welch ein besonderes Kind!“, raunte einer dem anderen zu. Erst der Chor der Engel auf den Feldern und jetzt diese Armut im Stall. Irgendwie passte das alles nicht zusammen. Behutsam näherten sich die Männer der Krippe, legten Lammfelle ab und brachten ein junges Lamm als Geschenk für Eltern und Kind. Dankbar lächelte Maria und legte eins der Felle über das Heu. Jetzt würde das Kind es etwas wärmer haben.

Längst waren die Chorengel in ihr himmlisches Reich zurückgekehrt, nur die kleinen Engel auf dem Dachfirst des Stalles hielten tapfer aus, auf ihrem Beobachtungsposten. Plötzlich vernahm Beron ein Raunen von dort oben. Was hörte er da? Könige seien unterwegs um das Kind zu besuchen? Sollte Gott Vater sich doch entschieden haben, seinen Sohn zum König zu machen, das wäre ja nicht mehr als gerechtfertigt, überlegte Beron. Er brauchte nicht lange zu warten und die Tür öffnete sich erneut und die edel gekleideten Männer traten ein. Beron strahlte über das ganze Gesicht und hätte sich fast verraten durch sein Aufleuchten. Schnell besann er sich und dämpfte seinen hellen Schein. Gold, Weihrauch und Myrrhe ließen die edlen Herren, als Geschenke, beim Kind, bevor sie wieder aufbrachen. Als diese abgereist waren, traten auch die kleinen Engel, die auf dem Dach des Stalles Wache gehalten hatten, ihren Rückflug Richtung Himmel an. Nur Beron blieb standhaft auf seinem Posten und dachte gar nicht daran das Kind aus den Augen zu lassen.

In der kommenden Nacht herrschte plötzlich Aufregung im Stall, so dass Beron aus seinem leichten Schlummer erwachte. Ein großer Engel trat in den Stall und ging an Josefs Lager. Er sendete ihm einen Traum, den er verstehen musste, denn Träume, die von Engel überbracht werden, können nicht missverstanden werden. Am frühen Morgen weckte Josef seine junge Frau und berichtete ihr von seinem Traum. Wenig später brach die kleine Familie auf. Damit hatte Beron nicht gerechnet, aber eins war ihm klar, jetzt brauchte das Kind erst recht seinen Schutz, also blieb ihm nichts Anderes übrig, als sich dem kleinen Trupp anzuschließen. Er begleitete die Familie, bis sie Ägypten erreicht und ein Quartier gefunden hatten. Als sich Beron sicher war, dass das Kind gut untergebracht war, begab auch er sich wieder zurück in sein himmlisches Reich. Was würde ihn jetzt erwarten, überlegte er. Doch es kam anders als gedacht. Gott Vater hatte den kleinen Beron keine Minute aus den Augen gelassen und lobte ihn für sein mutiges Verhalten, auch wenn es gegen alle Vorschrift war. Als Belohnung erhielt er neuen Glanz auf seinen Heiligenschein, was den kleinen Engel ganz besonders freute.

© Christina Telker

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Der kleine Weihnachtsengel

 

Etwas neidisch und ein wenig traurig saß Julius, der kleine Weihnachtsengel, auf seiner Wolke. ‚Immer dürfen nur die großen Engel hinunter zur Erde‘, dachte er bei sich, ‚dabei kann auch ich die Weihnachtsbotschaft verkündigen. Gabriel hat mir oft genug die Geschichte erzählt, die damals vor zweitausend Jahren in Bethlehem geschah. ‘ Neugierig rückte er immer weiter zum Wolkenrand, bis er plötzlich den Halt verlor und hinunterfiel. Noch nie war er so weit geflogen. Na ja, im Himmel mal so von einer Wolke zur anderen, aber bis zur Erde? Das hatte der Herr nicht erlaubt. ‚Du bist noch viel zu klein‘, hieß es dann immer. Und nun? Jetzt musste es auch gehen. Julius nahm all seine Kraft zusammen, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Als er der Erde näherkam, trug ihn der Wind teilweise, das erleichterte den Flug ungemein. Er bedanke sich beim Wind und bat ihn, ihn möglichst sanft auf der Erde abzusetzen, denn er hatte im Himmel gelernt, dass man auch mit dem Wind reden könnte. Der Wind lächelte über den kleinen Julius und setzte ihn direkt auf dem Marktplatz einer großen Stadt ab. Jetzt erst fiel Julius ein, dass er ja auf Erden für viele Menschen unsichtbar war und nur für, die sichtbar sei, die an Engel glaubten. ‚Na, da bin ich ja gespannt, was jetzt geschieht? ‘, dachte der kleine Engel bei sich und begab sich auf den Weg.

Zuerst lief er nur so die Straßen entlang und staunte über all das, was er hier sah. Hell erleuchtet war die Stadt, auch in den Fenstern sah er Lichter leuchten. ‚Wie schön es sich die Menschen zu Weihnachten machen‘, dachte er bei sich und verglich es mit dem großen Saal oben im Himmel. ‚Gut, da kommen die Menschen nicht heran, mit dem größten Aufwand nicht‘, stellte Julius fest, ‚aber auf der Erde ist ja auch alles ein wenig kleiner.‘ Nun wollte er sich endlich einmal das Christfest aus der Nähe ansehen und seine Weihnachtsbotschaft verkündigen, denn das war ja der Auftrag der Engel. Er flog zu einem hell erleuchteten Fenster im vierten Stock eines Hauses. Dort hatte die Mutter gerade den kleinen Paul ins Bett gebracht, der sich mit seinem neuen Teddy im Arm zum Schlafen bereitmachte. Die Mutter löschte gerade das Licht und schloss leise die Tür. Paul drehte sich zum Fenster um und konnte nicht glauben, was er da sah. ‚Saß da wirklich ein Engel oder war er heute besonders schnell eingeschlafen und träumte bereits? ‘, überlegte der Junge. Jetzt richtete er sich auf im Bett, aber der Engel war immer noch auf dem Fensterbrett. Vorsichtig ging Paul zum Fenster und öffnete es. „Wer bist du?“, fragte er nun, „du siehst aus wie ein Engel.“ „Ich bin ein Engel“, antwortete Julius und er erzählte nun, wie er auf die Erde gekommen war. „Nun möchte ich dir die Weihnachtsbotschaft bringen“, setzte Julius seine Rede fort. „Die hat uns heute Nachmittag schon der Engel des Krippenspiels gebracht“, berichtete Paul. „Von einem richtigen Engel höre ich sie aber gerne noch einmal.“ Paul kuschelte sich wieder in sein Bett, denn ihm war am geöffneten Fenster recht kalt geworden. Julius setzte sich ans Fußende des Bettes und erzählte vom Weihnachtswunder, das vor zweitausend Jahren geschah. Paul war irgendwann eingeschlafen und sah im Traum noch Julius auf seinem Bett sitzen. Julius flog zum Fenster, als er seinen Bericht beendet hatte. Bisher hatte er ja noch recht wenig gesehen, von dem, was die Menschen Weihnachten nennen. Die großen, leuchtenden Tannenbäume beeindruckten ihn sehr. Aber wo war die Krippe von Bethlehem, von der im Himmel immer soviel die Rede war? Suchend flog Julius durch die Straßen und schaute in die Fenster. Plötzlich entdeckte er eine Krippenlandschaft, so wie er sie sich vorgestellt hatte. Schafe, Maria und Josef und das Jesuskind in der Krippe. Selbst Ochs und Esel standen bei dem Kind. Das musste er sich näher ansehen und so kam es, dass er sich fast die Nase plattdrückte an der Fensterscheibe. Das konnte im Zimmer nicht verborgen bleiben. Verwundert trat ein älterer Mann ans Fenster und öffnete es. „Möchtest du hereinkommen, kleiner Engel?“, fragte er mit einem freundlichen Lächeln. „Gerne! Ich habe die Krippe gesehen und möchte sie gerne näher betrachten. Darf ich dir die Weihnachtsbotschaft bringen?“, fragte er den Mann. „Die Weihnachtsbotschaft habe ich heute auch den Menschen gebracht“, antwortete der Pfarrer. „Aber ich freue mich, einen Weihnachtsengel kennenzulernen.“  Beide begaben sich nun zur Krippe, worüber Julius ganz begeistert war.

Als sich der kleine Engel alles angesehen hatte, begann fast der Morgen zu grauen und er merkte, dass es längst Zeit war für den Rückflug. Er verabschiedete sich und flog schnell in Freie, auf der Suche nach dem Wind. Ihn bat er, ihn doch hinauf in den Himmel zu tragen. Gerne tat ihm der Wind den Gefallen. „Nun musst du aber das letzte Stück zu deiner Wolke selbst schaffen“, sagte er zum Abschied.

Julius musste sich mächtig anstrengen, manchmal meinte er, es nicht zu schaffen. Endlich hatte er seine Wolke erreicht. Nach einer kurzen Pause, begab er sich zum großen Saal, wo längst alle Engel Christi Geburt feierten. Etwas müde und erschöpft hielt er sich im Hintergrund und dachte: ‚Es hat sich gelohnt zur Erde zu fliegen. Nun habe ich einem Kind die Weihnachtsbotschaft gebracht und die Krippe vom Bethlehem gesehen. Vielleicht bin ich im nächsten Jahr schon groß genug, um mit den anderen Engeln zur Erde fliegen zu können. Nur gut, dass keiner etwas von meinem Ausflug gemerkt hat. Eins hatte Julius erfahren. Bis zum nächsten Jahr musste er unbedingt noch das Fliegen üben.

Der unscheinbare Engel

 

Die dunklen Fenster des Ortes begannen sich zu schmücken. Ja, fast konkurrierten sie untereinander, welches von ihnen wohl das Schönste sei. Grund dafür war die bevorstehende Adventszeit. Lichterbögen Fensterbilder, kunstvoll von Meisterhand geschnitzt, sahen fast majestätisch auf die vor sich hin flimmernden Plastiksterne hinunter. Keiner konnte es mit ihrer Schönheit aufnehmen, meinten sie. Eins hatten jedoch alle gemeinsam, sie strahlten ihr Licht in die Dunkelheit hinaus. Bis auf eine Ausnahme und das war ein Engel, der Jahr für Jahr bescheiden und still seinen Dienst auf dem Balkon einer Mietwohnung im dritten Stock eines Mehrfamilienhauses versah. Ursus, der schneeweiß gekleidete Engel mit einem langen Gewand, maß etwa vierzig Zentimeter und war damit schon ein rechtes Prachtexemplar, unter all den bekannten Weihnachtsengeln. Dora, eine alte Dame, hatte ihn bereits von ihrer Großmutter übernommen. Sie war sozusagen mit ihm alt geworden, mit dem kleinen Unterschied, daß Engel nie altern im Gegensatz zu uns Menschen. Ursus wurde von keinem Licht angestrahlt, er stand ganz schlicht und einfach da und sah auf die Stadt hinunter, mit ihrem pulsierenden Leben. Viel hatte er schon gesehen und erlebt, in seinem langen Erdendasein. Da war die Zeit der Postkutschen, die Zeit, als die Menschen begannen sich auf Zweirädern fortzubewegen, dann kam die Zeit der Automobile. Ursus hatte all das von seinem Standort aus Jahr für Jahr beobachtet. Manches Mal war er umgezogen. Von einem kleinen Haus auf dem Lande, in eine Mietwohnung in der Stadt.

Die Menschen sahen zu ihm hoch, wenn sie am Haus vorübergingen und freuten sich über ihn. Besonders groß war die Freude bei den Kindern. Was aber keiner ahnte, Ursus besaß die Gabe, in das Leben der Vorübergehenden einzugreifen, wenn er es für nötig hielt. So hatte er schon manchem Kind beigestanden. Hierzu verließ er seinen Platz auf dem Balkon und schwebte wie eine kleine Schneewolke, die kein Mensch so recht wahrnahm hinunter zum Geschehen. Er half Kindern, die sich einsam fühlten, um ihnen Mut zu machen. Er sandte einen Strahl der Hoffnung in Herzen von Menschen, die verzweifelt waren. Ursus hatte ein besonderes Gespür dafür, wo Hilfe gebraucht wurde.

Eines Tages, es war Mitte Januar und die Weihnachtszeit wieder einmal vorüber, holte Dora ihren Engel vom Balkon und verpackte ihn wie gewohnt in seine Schachtel, in der er den Sommer verbrachte. „In diesem Jahr müssen wir umziehen“, sagte Dora, als sie den Engel behutsam in Seidenpapier einschlug, damit er keinen Schaden nähme. ‚Ich darf zwar nur das Wichtigste mit ins Altenheim bringen‘, dachte sie bei sich, ‚Den Engel werde ich auf alle Fälle mitnehmen. Er ist für mich das Wichtigste.‘ Von dem Umzug bekam Ursus nichts mit, er verschlief ihn sozusagen in seinem ‚Sommerquartier‘. Als Dora ihn vor Beginn der Adventszeit aus seiner Schachtel holte, war er schon enttäuscht, nicht mehr die lebhafte Straße mit all den vorübereilenden Menschen unter sich zu haben. Auf einem schmalen Fensterbrett war nun sein Standort. Nach ein paar Tagen, hatte sich Ursus jedoch an seine neue Umgebung gewöhnt. Er verstand es, sich der jeweiligen Situation anzupassen. Doch auch hier sah ihn jeder der vorüberkam bewundernd an. So einen schönen Engel hatte es hier noch nie gegeben. Auch seine Fähigkeit, in die Seelen der Menschen zu schauen, hatte Ursus beibehalten. Wieder griff er, wie gewohnt helfend ein. Schon bald wunderte man sich über die positive Stimmung im Heim, die in diesem Jahr viel angenehmer war als zuvor. Auch als Dora eines Tages die Augen schloß und von einem himmlischen Boten in ein anderes Reich geführt wurde, stand Ursus nach wie vor im Altenheim zur Weihnachtszeit auf einem Fensterbrett. Die Schwestern hatten sich seiner angenommen zur Freude aller Bewohner.

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Drei Engel in der Weihnachtszeit

 

Bekanntlich ist die Weihnachtszeit, in besonderem Maße die Zeit der himmlischen Heerscharen.  So nahmen sich die drei Engel, Daniel, Manuel und Samuel vor, zu diesem Christfest einigen Menschen ganz persönlich eine Freude zu bereiten. Dies erforderte jedoch bereits im Vorfeld einiges an Vorbereitung, um am Weihnachtsabend gezielt einige Menschen zu besuchen. Abend für Abend schauten sie in die Wohnungen der Menschen. Sie waren bei Einsamen und in Familien ein unsichtbarer Gast. Sie flogen über Städte und Dörfer, um die Menschen in ihrer Geschäftigkeit zu erleben. Oftmals tauschten sie sich über ihre Begegnungen und Erlebnissen auf der Erde aus, wenn sie von ihren Erkundigungen zurück im Himmel waren. Der Heiligabend rückte näher und immer noch waren die drei sehr unentschlossen. Ihre Zeit auf der Erde würde nicht ausreichen, um überall dort Weihnachtsfreude zu bringen, wo sie dringend benötigt wurde. Längst hatten sie erkannt, dass das Leben auf der Erde nicht so friedlich war, wie es sein sollte.

Die weihnachtlichen Melodien, die in der Adventszeit bis in den Himmel empor drangen, klangen friedlich und mild. Viele Menschen waren jedoch verzweifelt, trotz oder gerade in dieser dunklen Jahreszeit, in der es auf das Fest der Feste zuging. Einsame fühlte sich doppelt einsam, Verzweifelten fehlte die Zuversicht, anderen fehlte der Mut schwere Situationen durchzustehen. Manches Mal waren die drei so frustriert nach ihren Ausflügen zur Erde, dass sie ihr Vorhaben am liebsten ganz aufgeben wollten. Doch immer wieder machten sie sich gegenseitig Mut. Besser einige wenige zu erfreuen, als gar nichts zu tun, sagten sie sich dann.

Am Morgen des Heiligen Abends war ihre Aufregung kaum noch zu verbergen. Man sah ihnen förmlich an, dass etwas in der Luft lag. Doch schnell verlor man sie aus dem Blickfeld, denn an diesem besonderen Tag herrschte stets große Aufregung im Himmel. Jeder Engel hatte seine Aufgaben, die ihn voll ausfüllten. Als die anderen Engel voll mit den Weihnachtsvorbereitungen beschäftigt waren, schwebten unsere drei Engel, in der anbrechenden Dämmerung hinab zur Erde.

Daniel flog noch eine Runde über der Stadt, die er sich auserwählt hatte und wollte gerade bei einer alten Dame einkehren, die in Gedanken versunken am Fenster saß, als er einen Mann auf der Brücke stehen sah. Schnell flog er zu ihm, setzte sich auf das Brückengeländer und lächelte ihn an. Trotz seiner Verzweiflung spürte der junge Mann plötzlich eine Veränderung in sich. Ihm wurde warm ums Herz. Was ist mit mir los, fragte er sich. Mein Entschluss stand doch soeben noch fest und nun? Bin ich etwa zu feige oder wankelmütig geworden, fragte er sich. Doch das Gefühl in seinem Innern ließ sich nicht verdrängen. Auf einmal musste er an seine Eltern denken. Jetzt sah er Wege, die ihn aus seiner Verzweiflung hinausführten. Ihm kamen Gedanken, die er zuvor nicht kannten, die ihm zeigten, wie er seinen Weg ändern könnte. Mutig drehte er um und ging heim. Als seine Frau ihn ins Zimmer treten sah, rief sie: „Wo bist du nur gewesen, ich haben mich so gesorgt!“ Sein kleines Töchterchen kam auf ihn zu gelaufen und umarmte ihn. Da erkannte der junge Mann, dass Weihnachten war, das Fest der Liebe, und dass sie gemeinsam ihre Situation lösen würden. Daniel flog beruhigt weiter und besuchte nun auch die alte Dame. Es wurde Zeit, ihr die Botschaft der Christnacht zu bringen. Mit ein paar liebevollen Gedanken forderte er sie auf, dem Glockenklang zu folgen und in die Kirche zu gehen. Es war Weihnachten! ‚Eigentlich wollte ich heute nicht mehr aus dem Haus gehen‘, dachte Luise bei sich. Doch als sie schon auf dem Weg zum Gotteshaus ihre alte, längst vergessene Freundin Gerda traf, war für beide Frauen das Fest der Liebe gekommen. Zufrieden kehre Daniel in sein himmlisches Reich zurück.

Auch Manuel war gerade eingetroffen. Die beiden hatten sich viel zu berichten. „Eigentlich dürften wir nicht nur am Weihnachtsabend zu den Menschen fliegen. Es gibt so viel zu tun. Wir müssten unbedingt öfter einmal den Weg zur Erde finden“, meinte er.  Was Daniel nur bejahen konnte. Gemeinsam warteten sie auf ihren Freund Samuel, der anscheinend immer noch alle Hände voll zu tun hatte.

Dieser war indessen auf einem Bauernhof eingekehrt. ‚Wie zur Zeit, Jesu‘, dachte er bei sich. Ochs und Esel stehen friedlich im Stall und erfreuen sich an einer gefüllten Futterkrippe. Dann sah er ins Fenster und merkte, dass die Eltern nicht einmal die Zeit für den Kirchgang erübrigen konnten, da sie vor Arbeit nicht aus noch ein wussten. Doch als sie am Abend zur Ruhe kamen, setzten sich beide an den Kachelofen und der Vater schlug das Evangelium auf und las. Trotz der vielen Arbeit war nun auch hier die Weihnachtsbotschaft eingekehrt. Samuel flog weiter und entdeckte noch Licht in einem Fenster. Hier wohnte die kleine Hanne. Sie war so aufgeregt, von all dem, was der Abend gebracht hatte, dass sie nicht einschlafen konnte und heimlich noch einmal das Licht eingeschaltet hatte. Nun saß sie unter dem Tannenbaum und träumte vor sich hin. ‚Sie wird sich erkälten‘, dachte Samuel bei sich. Mit seinen Flügeln hob er behutsam das träumende Kind empor und trug es in sein Bett. Leise, kaum hörbar summte er Weihnachtlieder, die Hanne endgültig beruhigten und ihr süße Träume schenkten. Jetzt war es auch für ihn Zeit zum himmlischen Fest zu erscheinen, denn auch bei den Engeln wurde die Christnacht auf ganz besondere Weise gefeiert. Man gedachte der Engel, die die frohe Botschaft von Jesu Geburt, auf den Feldern von Bethlehem verkündigten. Nie wurden sie müde, diese Botschaft in jedem Jahr neu zu hören.  Gemeinsam saßen die drei noch lange und dachten darüber nach, wie sie künftig hilfreich auf der Erde eingreifen würden.

 

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